Kintsugi – Wertvolle Risse im Leben
Kintsugi ist eine traditionelle Form der Keramikreparatur aus Japan.
Mit Kintsugi lässt sich der Lieblingsteller aus Porzellan wieder kitten. Die uralte Reparaturkunst wird gerade neu entdeckt, denn sie ist ein schöner Zauberstreich gegen unsere moderne „Wegwerf-Mentalität“.
(Ausgabe Nr. 56 SEP/OKT 2020)
Jeder hat so seine Lieblingstasse oder Lieblingsschale, verbunden mit Kindheitserinnerungen, oder ein Erbstück von der Oma, die wir so lieb hatten. Ärgerlich ist es nur, wenn sie etwa durch eine ungeschickte Handbewegung oder Unachtsamkeit beim Spülen zerbricht. Und jetzt? Viel zu schade für den Mülleimer! Wir erinnern uns vielleicht an die schönen japanischen Schüsseln, die mit besonderen Goldadern verziert sind und welche wir schon einmal in einem Museum oder in einer Kunstausstellung gesehen haben. Eine uralte Kunst, welche schon vor 500 Jahren entdeckt wurde. Also kein Abfall, sondern Glücksfall: Der Riss wird zum wichtigsten Teil des Objekts. Dabei haben diese Scherben durchaus das Potenzial, ihrem Besitzer umso mehr Freude zu bereiten.
„Kintsugi“ ist eine traditionelle Form der Keramikreparatur aus Japan. Dabei werden die zersprungenen Teile wieder in ihre ursprüngliche Form zusammengesetzt und die Bruchstellen bleiben nicht nur sichtbar; eine bewusste Entscheidung – und der Riss wird zum Teil seiner Geschichte. Nachdem die Stücke mit Japanlack wieder zusammengeklebt sind, überziehen die Kintsugi-Meister die Naht mit Gold- oder Silberstaub. Nun sieht es aus, als ob sich zarte Adern über den Teller ziehen und ein völlig neues Kunststück ist entstanden, ein einzigartiges Sammelstück.
Da der natürliche Japanlack, der Wundsaft des Lackbaums,welcher mit dem bei uns bekannten Essigbaum verwandt ist, wasserbeständig und elastisch ist, kann das Teil nach seiner Reparatur wieder vollständig genutzt werden. Durch die Einzigartigkeit, die entstanden ist, sind die neuen Gegenstände kostbarer als zuvor.
Diese Variante des Upcycling, also der Wiederverwertung, soll bereits im 15. Jahrhundert entstanden sein. Man sagt, dass Kintsugi auf Ashikaga Yoshimasa, einen Shōgun des 15. Jahrhunderts, zurückzuführen ist. Nachdem er eine seiner chinesischen Teeschalen aus Versehen zerbrach, schickte er diese zur Reparatur nach China – und wurde von dem endgültigen Ergebnis schwer enttäuscht. Daraufhin legte er japanischen Kunsthandwerkern ans Herz, eine ästhetisch ansprechendere Methode zu entwickeln, um seine Lieblingsschale wieder ansehnlich zu machen.
Sie sollten sich etwas einfallen lassen, und er bedrängte sie so lange, bis sie darauf kamen, den Spieß einfach umzudrehen und die Zerbrechlichkeit des Gegenstands hervorzuheben. Erst dank ihres Makels konnten sie der Tasse neue Schönheit verleihen.
Das Prinzip des Kintsugi lässt sich auch auf den Menschen übertragen. Kintsugi kann man grob mit „Gold flicken“ übersetzen. Es veranschaulicht damit ein Urprinzip der fernöstlichen Philosophie, denn im Wabi-Sabi, dem japanischen Konzept von Ästhetik, steckt das Schöne eben im Fehlerhaften, im Vergänglichen, im Alten, im Kleinen. Schönheit muss eben nicht automatisch Perfektion bedeuten.
„Ein angenehmer Gedanke in unserer
Welt der Fotonachbearbeitung.
Sehen, was ist. Und sich daran erfreuen.
Scherben bringen eben doch Glück!“
Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin gebrochen, ich habe zwar Risse an manchen Stellen, aber ich bin dennoch wertvoll. Das macht mich erst einzigartig. Die Risse sind mit Gold gefüllt und ich bin kostbar. So wie jede reparierte Schale ist auch jeder Mensch ein Original, keine Kopie, sondern etwas absolut Einzigartiges.
„Ich bin einzigartig.
Ich bin kostbar.
Dessen sollte man sich
jeden Tag bewusst sein.“
RS