Allein, aber nicht einsam
Gedanken von Rita Steinmetz
Viele von uns wollen es nicht, können es nicht oder umgehen es. Viele genießen es, lieben es oder hassen es: Das Alleinsein. Das Wort „allein“ bringt schnell einen negativen Nachklang mit sich, dabei ist Alleinsein nicht gleichzusetzen mit Einsamkeit.
(Ausgabe Nr. 51 SEP/OKT19)
Einsamkeit kann tödlich sein. Sie ist so gesundheitsschädlich wie regelmäßiger Zigarettenkonsum oder Fettleibigkeit. Sogar schon in der Bibel wird gewarnt: „Wehe dem, der alleine ist; wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe.“ Und: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Ja, aber warum denn nicht? Warum ist die Einsamkeit bloß so negativ behaftet?
Wenn man mal einen Nachmittag nur mit sich selbst verbringt, wird man schnell merken, dass man die Umgebung ganz anders wahrnimmt. Deshalb gehen viele, auch Prominente, die ständig unter Strom stehen, einmal im Leben den Jakobsweg. Sogar Hape Kerkeling schreibt das in seinem Buch „Ich bin dann mal weg“, dass er diese Auszeit gebraucht hat. Dag Hammarskjöld schrieb auch in seinem Tagebuch: „Die längste Reise ist die Reise nach innen“.
In der modernen Zeit ist viel von Teamarbeit die Rede und bei einem Bewerbungsgespräch wird meist auch die Frage nach Teamfähigkeit gestellt. Dabei macht das Vermögen, auch allein sein zu können und auch allein sein zu wollen, erst beziehungs- und teamfähig.
Schaut man sich aber einmal in der Geschichte um, gibt es viele Beispiele von Personen, die Geschichte geschrieben haben und die stille Seite des Lebens oft ungewollt erlebt haben. Beinahe in allen Weltreligionen ist der Gang durch die Wüste, das Urbild der Einsamkeit und Abgeschiedenheit, eine zentrale Metapher. Ob es Buddha, Mohammed, Mose, Johannes der Täufer oder Jesus war, die Zeit in der Wüste war eine Vorbereitungszeit für ihre große Aufgabe, Mose verbrachte sogar 40 Jahre in der Wüste als Schafhirte. Wir wissen, dass auch ein Schafhirte – leider sieht man sie heute immer seltener – viel Zeit allein mit ihren Schafen verbringen. Fragt man sie, ob es nicht langweilig sei, dann werden sie es schnell verneinen.
Auch Reinhold Messner beschreibt in seinem Buch „Gobi – die Wüste in mir“, dass er auf den 2000 Kilometern quer durch die Westgobi nicht nur Nomaden, Einsamkeit und Stille der Gerölllandschaft begegnet ist, sondern auch auf Spuren seiner Vergangenheit gestoßen ist und verschüttete Erlebnisse aus der Kindheit lebendig wurden.
Einsamkeit senkt nämlich die Reizschwelle. Das bedeutet, dass wir unsere Umwelt viel intensiver wahrnehmen, wenn wir alleine sind. „Was man überhörte, hört man nun, was man nie gefühlt hat, fühlt man, woran man achtlos vorüberging, daran bleibt man nun hängen“, schreibt Martin Hecht in einer Ausgabe von „Psychologie Heute“. Dass das zeitweilige Alleinsein eine entspannende Wirkung hat, lässt sich sogar nachweisen: besonders Burnout-Patienten profitieren von der sogenannten „sensorischen Deprivation“, also der drastischen Reduzierung von Außenreizen. Und die kann nun mal nur zustande kommen, wenn man alleine ist. Es kann jedoch nicht gelingen, wenn wir weiterhin alle paar Minuten unseren Facebook-Newsfeed checken.
Wenn man heute durch die Stadt geht, sind junge Leute immer im Gespräch mit ihrem Handy oder haben Kopfhörer auf, damit sie ja keine Stille empfinden müssen. Man könnte ja zum Nachdenken kommen. Dauerberieselung ist angesagt. Und wenn man doch alleine ist, sind ja die vielen Chatfreunde zum unterhalten da. Das Credo lautet dann, wir sind nur glückliche Menschen, wenn wir verbunden sind, wir sind nur glücklich, wenn wir uns als soziale Wesen spüren – und zwar so oft wie möglich. Wer sich zur Einsamkeit bekennt, wird als unvollkommen betrachtet, als Hinterwäldler, gar als Versager.
Generell braucht der Mensch zwar soziale Interaktionen, da sind sich Wissenschaftler einig, und gegen regelmäßige Unternehmungen mit Freunden spricht selbstverständlich gar nichts. Allerdings werden die Freuden der Gemeinsamkeit auch überschätzt. Oder, wie Oscar Wilde es spitzzüngig formuliert: „Wenn du Einsamkeit nicht ertragen kannst, dann langweilst du vielleicht auch andere.“ Alles, nur nicht einsam sein! Im alten Griechenland wurde als Bedingung der Freundschaft genannt, man könne nur Freunde finden, wenn man sich selbst als Freund gefunden hat. Oder anders bezeichnet: Vor dem Dialog steht der Monolog.
„The only way to have a friend
is to be one.“
Ralph Waldo Emerson, Schriftsteller und Philosoph dt.: Du kannst nur einen Freund haben, wenn du selber einer bist.
Wir verzichten auf schöne Reisen, weil wir Angst haben, allein zu reisen. Wir gehen nicht allein zu einer Vernissage oder ins Café, weil wir Angst haben, dumm angeguckt zu werden. Vielleicht ist es ja an der Zeit, nur mal mit sich selbst auszugehen. Vor einigen Jahren hat der Sozialpsychologe Eric Julian Manalastas dazu ein Experiment gestartet. Er verordnete den Teilnehmern eine mindestens dreistündige Verabredung mit sich selbst. Egal, was sie unternahmen – sie durften dabei nichts tun, was bei „normalen“ Dates sonst verpönt ist, etwa ein Buch lesen oder ständig auf das Handy schauen. Später stellte sich heraus, dass die Teilnehmer durch diese Erfahrung das Alleinsein in der Zukunft positiver betrachteten.
Beim nächsten einsamen Samstagabend lohnt es sich daher vielleicht, daran zu denken: Man ist nicht allein, man hat ja sich.